Seite:Friedrich Bauer - Christliche Ethik auf lutherischer Grundlage.pdf/63

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

„Das Gewissen ist das der menschlichen Natur wesentliche Bewußtsein des Sittengesetzes ist seiner organischen Totalität, welches Bewußtsein für jeden einzelnen Pflichtfall als ein diesem entsprechendes unmittelbares sittliches Wissen und sittlicher Trieb zur Erscheinung kommt.“

 So auch Vilmar, wenn er sagt: „In der Stelle Röm. 2, 15 erscheint die συνείδησις deutlich als allgemeine Kenntnis (Kunde), als allgemeines Bewußtsein der Heiden von dem in ihre Herzen eingeschriebenen Gesetz.“ Woher dieses Gesetz stammt und wie es in das Herz eingeschrieben worden, bleibt hier außer Betracht, cf. Vilmar, Moral I. 97, 98.

 Die Etymologie des Wortes συνείδησις, conscientia, Gewissen, Mitwissen, Bewußtsein, sagt nicht viel über das Wesen des Gewissens aus. Es liegen in dem Worte zwei Momente: das Wissen und das Mitwissen. Das letztere bezieht sich zurück auf das wissende Subjekt (sich einer Sache bewußt sein, gleichsam sein eigener Augen- und Ohrenzeuge sein: συνειδέναι ἑαυτῷ). Gewissen ist also eine besondere Form des Wissens, ein zeugenmäßiges Wissen des Menschen. Hieraus entwickelt sich die ethische Bedeutung des Wortes συνείδησις, als eines erfahrungsmäßigen, zeugenmäßigen Wissens des Menschen um die Existenz einer ihm geltenden absoluten sittlichen Norm und um sein Verhalten zu dieser Norm. Daraus ergibt sich auch die nächste primäre Funktion des Gewissens, welche der Apostel Röm. 2, 15 in dem συμμαρτυρεῖν (Mitzeugen) sieht. Das Gewissen bekundet dem Menschen das Dasein einer ihn absolut bindenden sittlichen Norm, es erkennt dieselbe an, bejaht ihre Forderung in jedem einzelnen Fall und spricht zu derselben ein feierliches Ja und Amen. Dies ist die erste, unmittelbarste Funktion des Gewissens.

 Aus dem Gesagten geht übrigens hervor, daß das Gewissen an sich inhaltsleer ist. Das Gewissen ist nicht etwa das Sittengesetz in der Brust. Dies ist so wenig der Fall, daß es vielmehr Röm. 2, 15 ausdrücklich von dem eingeschriebenen Gesetze unterschieden wird. Nur in populärer Rede kann man abgekürzt sagen, das Gewissen befiehlt dem Menschen, was er thun und lassen solle. Das ist eine populäre Zusammendrängung, da ist dann das mit dem Inhalt gefüllte Gewissen gemeint. Es bezeugt die Existenz des ins Herz geschriebenen Gesetzes, bejaht dessen Forderung. Diese primäre Funktion hat es auch schon vor dem Fall geübt. Es ist verkehrt, zu