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 So frei nun der Mensch auf der einen Seite ist, so abhängig ist er von seiner eigenen Natur und von seiner Umgebung. Diese wirken mächtig bestimmend auf seinen Willen, ja oft überwältigend. Bei der sittlichen Beurteilung seiner selbst und andrer, bei der sittlichen Bildung, muß dieser Einfluß mit in Betracht gezogen werden, wiewohl er nie den Ausschlag geben kann. Der Mensch wird im Guten oft mächtig gefördert, aber auch gehindert durch seine Natur; noch viel, viel mächtiger ist der Einfluß der Natur im Bösen und dessen überwältigende Macht (Erbsünde s. unten). Es gibt natürliche Anlagen zum Guten und Bösen bei den einzelnen Menschen in besonderer Weise, z. B. ein natürliches Wohlwollen, eine natürliche Freundlichkeit gegen Menschen, eine natürliche Mäßigkeit. Das ist Gabe, die erst zur Tugend werden muß, d. h. zu bewußter, freier und wohlgeregelter Übung der Gabe. Wiederum gibt es bei einzelnen Menschen besondere sündliche Neigungen, z. B. zum Ehrgeiz, zur Herrschsucht, zur Wollust, die entweder bekämpft werden oder zur vollen Herrschaft gelangen.

 Die Naturbestimmtheit des Menschen, von der hier die Rede ist, und die bestimmend auf seinen Willen wirkt, besteht

 1. in seinem Naturell, d. i. in der einem jeden Menschen eigenen, von allen andern Menschen ihn unterscheidenden Naturbeschaffenheit von Leib und Seele und dem dadurch bedingten Wechselverhältnis. Zu diesen Verschiedenheiten gehört die verschiedene Körperkonstitution, die Beschaffenheit des Blutes, der Säfte, der Nerven etc.; dahin gehören die verschiedenen Neigungen und Fähigkeiten (Gaben), Empfindungen, Affekte und Leidenschaften der Seele. Aus dem Naturell gehen die Temperamente hervor, deren man vier zählt. Diese sind vier Grund- und Hauptformen, in denen das Naturell sich äußert. Die Verschiedenheit äußert sich vorzugsweise in dem verschiedenen Verhalten des Menschen zu der ihn umgebenden Außenwelt, also in den verschiedenen Wirkungen und Gegenwirkungen, welche die äußeren Eindrücke auf die Seele hervorrufen. Es kommt darauf an, mit welcher Geschwindigkeit und eingreifenden Gewalt, die nach Maß und Grad verschieden ist, die Seele des Menschen die Einwirkungen von außen in sich aufnimmt einerseits, und mit welcher Geschwindigkeit und eingreifenden Gewalt sie auf die Außenwelt zurückwirkt, reagiert.

 Die beiden leicht erregbaren Temperamente sind:

 Das sanguinische, wo die Erregbarkeit im Gefühls- und Vorstellungsvermögen ihren Sitz hat und die Gefühle und Vorstellungen