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 2. Die christliche Tugend ist in Bezug auf die persönliche Ursache unseres Heils persönliches Hängen an dem Geber und Spender des Heils, ein Hangen an Gott in Christo Jesu durch den heiligen Geist. Daraus erwächst:

 a. Die innige Liebe zu Gott, die nur Erwiderung seiner Liebe ist und selbst von Gott gewirkt ist, 1. Joh. 4, 19.

 b. Alle seine Gaben und Wohlthaten erscheinen als Erweisungen seiner Liebe und binden den Empfänger an ihn, so daß er sich verbunden fühlt zum Dank. Die Dankbarkeit ist daher die bleibende Grundstimmung des Christen Gott gegenüber, in der er sich ebenso gebunden als frei fühlt. Die Dankbarkeit wird zum mächtigen inneren Antrieb, zum Motiv (Beweggrund), besonders der Treue und des Gehorsams. Sie gibt Lust und Kraft zu allem Guten. Die Dankbarkeit, wenn sie in Übung tritt, wird aber selbst zur Tugend, sie ist nicht bloß Motiv dazu.

 3. In der Beziehung des Christen zu den Gemeinschaften, in denen er steht, ist die christliche Tugend zunächst Bruderliebe, sodann allgemeine Nächstenliebe, Menschenliebe. – Das Verhältnis zu Gott ist allerdings beim Christen das nächste, aber er tritt nicht in dasselbe, ohne zugleich in ein Verhältnis zu den Kindern Gottes zu treten. Aber bereits durch die Schöpfung (resp. Geburt) ist der Mensch in ein Doppelverhältnis gesetzt: zu dem Schöpfer und zur Gemeinschaft der Menschheit, daher das Doppelgebot der Liebe, Matth. 22, 34. Bruderliebe geht über Menschenliebe; sie ist das Kennzeichen der christlichen Gemeinschaft, Joh. 13, 34–35; 1. Joh. 4, 7–12; 1. Kor. 13; Gal. 5, 10; 2. Petr. 1, 7; Luk. 10, 23–37; Röm. 13, 8–10.

 4. Schaut der Mensch nicht über sich auf Gott und was er von ihm empfängt, sondern in sich, in seine noch übrig gebliebene sündliche Natur, seine Schwachheit und sein Elend, so kann er nicht anders, als sich höchst unwürdig fühlen aller Gnade und Wohlthat Gottes, ja strafwürdig und ohnmächtig zu allem Guten. Das gibt die Grundstimmung der Reue und Buße. Hiezu gehört aber Aufrichtigkeit, 1. Joh. 1, 8–10, die Grundbedingung alles sittlichen Fortschrittes. Während der Blick auf das Heil in Christo erhebt, drückt der Blick in die eigene Sündhaftigkeit und das tiefe Verderben nieder und macht den Menschen klein und niedrig in seinen Augen und gar zunichte, 1. Kor. 1, 28. Das ist das Gefühl der geistlichen Armut, Matth. 5, 3, und die Gesinnung der Demut, die den Menschen groß macht in Gottes Augen und selbst eine herrliche Tugend ist, eine Gnadengabe,