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§ 45.
Der bleibende persönliche Besitz und die Verwertung des geistlichen Lebens in der Tugend und in den geistlichen Gaben.


1. Das Wort Tugend.

 Das Wort „Tugend“ἀρετή – findet sich im Neuen Testament nur an vier Stellen. Zunächst 1. Petr. 2, 9 und 2. Petr. 1, 3. Hier ist Tugend auf Gott angewandt und bezeichnet die Fülle des göttlichen Lebens, die uns mitgeteilt ist, daraus wir Kraft schöpfen für unser geistliches Leben. 2. Petr. 1, 5 kommt ἀρετή noch einmal vor und zwar als ein etwas umfassender Begriff. Tugend bezeichnet hier wohl die Äußerungen der produktiven Seite des Glaubens, seine sittliche Thatkraft, die geistliche Energie. Endlich findet sich das Wort noch Phil. 4, 8.

 Im philosophischen und gewöhnlichen Sprachgebrauch versteht man unter Tugend den Komplex, die Summe von sittlichen Leistungen, oder die sittliche Gesamttüchtigkeit. Das ist nicht der Sinn von ἀρετή in Phil. 4, 8; denn hier steht τις ἀρετή. ἀρετή bezeichnet also beides im Neuen Testament: einzelne bestimmte Äußerungen des geistlichen Lebens und die sittliche Thatkraft überhaupt. Das griechische ἀρετή (ἄριστος) bezeichnet zunächst körperliche Tüchtigkeit, wie das lateinische virtus (von vir – ἀνήρ) zunächst Männlichkeit; später wird daraus der allgemeine Begriff Tüchtigkeit, endlich: Zusammenfassung aller sittlichen Leistungen.

 Obgleich das Wort Tugend durch die Rationalisten anrüchig geworden ist, können wir seinen Gebrauch in der Ethik nicht umgehen. Man müßte sonst εὐσέβεια dafür nehmen; wobei aber die sittliche Leistung nicht hervorgehoben würde.


2. Das Wesen der christlichen Tugend.

 Tugend ist persönliche Tüchtigkeit zum Guten im weitesten Sinn, wenn der Mensch etwas geworden ist und wird zum Lobe Gottes, Eph. 1, 12. 14; denn die Tugend ist etwas Gewordenes, aber zugleich Werdendes, Tugend setzt voraus gottgegebene Kräfte zum Guten und Verwendung derselben, Eph. 1, 3 u. 4, sie ist das Resultat der Arbeit der Gnade an dem Menschen und zugleich seiner eigenen sittlichen Anstrengungen, eine sittliche Errungenschaft und eine Gabe der Gnade, 1. Kor. 15, 10, etwas, was der Person zum bleibenden Besitz wird, eine ihr anhaftende sittliche Qualität, Errungenschaft. Der Mensch