Seite:Freud Neue Folge der Vorlesungen zur Einfuehrung in die Psychoanalyse 1933.pdf/78

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

auf dem Wege solch direkter psychischer Übertragung. Man wird auf die Vermutung geführt, daß dies der ursprüngliche, archaische Weg der Verständigung unter den Einzelwesen ist, der im Lauf der phylogenetischen Entwicklung durch die bessere Methode der Mitteilung mit Hilfe von Zeichen zurückgedrängt wird, die man mit den Sinnesorganen aufnimmt. Aber die ältere Methode könnte im Hintergrund erhalten bleiben und sich unter gewissen Bedingungen noch durchsetzen, z. B. auch in leidenschaftlich erregten Massen. Das ist alles noch unsicher und voll von ungelösten Rätseln, aber es ist kein Grund zum Erschrecken.

Wenn es eine Telepathie als realen Vorgang gibt, so kann man trotz ihrer schweren Erweisbarkeit vermuten, daß sie ein recht häufiges Phänomen ist. Es würde unseren Erwartungen entsprechen, wenn wir sie gerade im Seelenleben des Kindes aufzeigen könnten. Man wird da an die häufige Angstvorstellung der Kinder erinnert, daß die Eltern alle ihre Gedanken kennen, ohne daß sie sie ihnen mitgeteilt hätten, das volle Gegenstück und vielleicht die Quelle des Glaubens Erwachsener an die Allwissenheit Gottes. Vor kurzem hat eine vertrauenswürdige Frau, Dorothy Burlingham[WS 1], in einem Aufsatz „Kinderanalyse und Mutter“[WS 2] Beobachtungen mitgeteilt, die, wenn sie sich bestätigen lassen, dem restlichen Zweifel an der Realität der Gedankenübertragung ein Ende machen müssen. Sie machte sich die nicht mehr seltene Situation zu Nutze, daß sich Mutter und Kind gleichzeitig in Analyse befinden, und berichtet aus derselben merkwürdige Vorfälle wie den

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Dorothy Burlingham: Dorothy Tiffany Burlingham (Wikipedia).
  2. Dorothy Burlingham: Kinderanalyse und Mutter in der Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik, VI 1932 Heft 7/8, S. 269–289 Internet Archive
Empfohlene Zitierweise:
Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien 1933, Seite 78. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Freud_Neue_Folge_der_Vorlesungen_zur_Einfuehrung_in_die_Psychoanalyse_1933.pdf/78&oldid=- (Version vom 7.5.2021)