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zusammenzuhalten und darum kaum zu regieren sind. Man stelle sich vor, wie unmöglich die menschliche Gesellschaft würde, wenn jedermann auch nur sein eigenes Einmaleins und seine besondere Längen- und Gewichtseinheit hätte. Es ist unsere beste Zukunftshoffnung, daß der Intellekt – der wissenschaftliche Geist, die Vernunft – mit der Zeit die Diktatur im menschlichen Seelenleben erringen wird. Das Wesen der Vernunft bürgt dafür, daß sie dann nicht unterlassen wird, den menschlichen Gefühlsregungen und was von ihnen bestimmt wird, die ihnen gebührende Stellung einzuräumen. Aber der gemeinsame Zwang einer solchen Herrschaft der Vernunft wird sich als das stärkste einigende Band unter den Menschen erweisen und weitere Einigungen anbahnen. Was sich, wie das Denkverbot der Religion, einer solchen Entwicklung widersetzt, ist eine Gefahr für die Zukunft der Menschheit.

Man kann nun fragen: Warum macht die Religion diesem für sie aussichtslosen Streit nicht ein Ende, indem sie frei heraus erklärt: „Es ist richtig, daß ich Euch das nicht geben kann, was man gemeinhin Wahrheit nennt; dafür müßt Ihr Euch an die Wissenschaft halten. Aber was ich zu geben habe, ist ungleich schöner, trostreicher und erhebender als alles, was Ihr von der Wissenschaft bekommen könnt. Und darum sage ich Euch, es ist wahr in einem anderen, höheren Sinn.“ Die Antwort ist leicht zu finden. Die Religion kann dieses Zugeständnis nicht machen, weil sie damit jeden Einfluß auf die Menge einbüßen würde. Der gemeine Mann kennt nur eine Wahrheit im gemeinen Sinn des Wortes. Was eine höhere

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Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien 1933, Seite 239. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Freud_Neue_Folge_der_Vorlesungen_zur_Einfuehrung_in_die_Psychoanalyse_1933.pdf/239&oldid=- (Version vom 21.5.2018)