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der gelernt hat, seine gewöhnlichen Geschäfte nach den Regeln der Erfahrung und unter Rücksicht auf die Realität zu führen, daß er die Besorgung grade seiner intimsten Interessen einer Instanz übertragen sollte, die die Befreiung von den Vorschriften des rationellen Denkens als ihr Vorrecht in Anspruch nimmt. Und was den Schutz betrifft, den die Religion ihren Gläubigen verspricht, so meine ich, niemand von uns würde auch nur in ein Automobil einsteigen wollen, dessen Lenker erklärt, er fahre unbeirrt durch die Regeln des Straßenverkehrs nach den Impulsen seiner von hohem Schwung getragenen Phantasie.

Das Denkverbot, das die Religion im Dienste ihrer Selbsterhaltung ausgehen läßt, ist auch keineswegs ungefährlich, weder für den Einzelnen, noch für die menschliche Gemeinschaft. Die analytische Erfahrung hat uns gelehrt, daß ein solches Verbot, wenn auch ursprünglich auf ein bestimmtes Gebiet beschränkt, die Neigung hat sich auszubreiten und dann eine Ursache schwerer Hemmungen in der Lebenshaltung der Person wird. Diese Wirkung kann man auch am weiblichen Geschlecht beobachten als Folge des Verbots, sich auch nur im Denken mit seiner Sexualität zu beschäftigen. Die Schädlichkeit der religiösen Denkhemmung vermag die Biographik in der Lebensgeschichte fast aller hervorragenden Individuen vergangener Zeiten nachzuweisen. Anderseits gehört der Intellekt – oder nennen wir ihn bei seinem uns vertrauten Namen: die Vernunft – zu den Mächten, von denen man am ehesten einen einigenden Einfluß auf die Menschen erwarten darf, die Menschen, die so schwer

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Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien 1933, Seite 238. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Freud_Neue_Folge_der_Vorlesungen_zur_Einfuehrung_in_die_Psychoanalyse_1933.pdf/238&oldid=- (Version vom 21.5.2018)