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sich als Überlebsel der Vorzeit der böse Geist eine Stelle im System der Religion gewahrt.

Ist dies die Vorgeschichte der religiösen Weltanschauung, so wenden wir uns jetzt zu dem, was seither geschehen und noch unter unseren Augen vor sich geht. Der wissenschaftliche Geist, an der Beobachtung der Naturvorgänge erstarkt, hat im Laufe der Zeiten begonnen, die Religion wie eine menschliche Angelegenheit zu behandeln und sie einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Der konnte sie nicht Stand halten. Es waren zunächst ihre Wunderberichte, die Befremden und Unglauben hervorriefen, weil sie allem widersprachen, was die nüchterne Beobachtung gelehrt hatte, und überdeutlich den Einfluß menschlicher Phantasietätigkeit verrieten. Dann mußten ihre Lehren zur Erklärung der bestehenden Welt Ablehnung finden, denn sie zeugten von einer Unwissenheit, die den Stempel alter Zeiten an sich trug und der man sich dank gesteigerter Vertrautheit mit den Naturgesetzen überlegen wußte. Daß die Welt durch Zeugungs- oder Schöpfungsakte entstanden sein sollte, analog der Entstehung des einzelnen Menschen, erschien nicht mehr als die nächste, selbstverständliche Annahme, seitdem sich dem Denken die Unterscheidung von belebten und seelenvollen Wesen und einer unbelebten Natur aufgedrängt hatte, mit der das Festhalten am ursprünglichen Animismus unmöglich wurde. Nicht zu übersehen ist auch der Einfluß des vergleichenden Studiums verschiedener religiöser Systeme und der Eindruck ihrer gegenseitigen Ausschließung und ihrer Intoleranz gegen einander.

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Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien 1933, Seite 231. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Freud_Neue_Folge_der_Vorlesungen_zur_Einfuehrung_in_die_Psychoanalyse_1933.pdf/231&oldid=- (Version vom 21.5.2018)