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also nicht überrascht sein zu hören, daß viele Äußerungen des Animismus sich bis auf den heutigen Tag erhalten haben, meist als sogenannter Aberglaube, neben und hinter der Religion. Aber mehr noch, Sie werden das Urteil kaum abweisen können, daß unsere Philosophie wesentliche Züge der animistischen Denkweise bewahrt hat, die Überschätzung des Wortzaubers, den Glauben, daß die realen Vorgänge in der Welt die Wege gehen, die unser Denken ihnen anweisen will. Es wäre freilich ein Animismus ohne magische Handlungen. Anderseits dürfen wir erwarten, daß es schon in jenem Zeitalter irgend eine Art von Ethik gegeben hat, Vorschriften für den Verkehr der Menschen untereinander, aber nichts spricht dafür, daß sie inniger an den animistischen Glauben geknüpft waren. Wahrscheinlich waren sie der unmittelbare Ausdruck der Machtverhältnisse und praktischen Bedürfnisse.

Was den Übergang vom Animismus zur Religion erzwungen hat, wäre sehr wissenswert, aber Sie können sich vorstellen, welches Dunkel heute noch diese Urzeiten der Entwicklungsgeschichte des Menschengeistes verhüllt. Es scheint Tatsache, daß die erste Erscheinungsform der Religion der merkwürdige Totemismus war, die Tierverehrung, in dessen Gefolge auch die ersten ethischen Gebote, die Tabus, auftraten. Ich habe seinerzeit in einem Buche „Totem und Tabu“[WS 1] eine Vermutung ausgearbeitet, die diese Wandlung auf einen Umsturz in den Verhältnissen der menschlichen Familie zurückführt. Die Hauptleistung der Religion im Vergleich zum Animismus liegt in der psychischen Bindung der Dämonenangst. Doch hat

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Sigmund Freud, Totem und Tabu (1913).
Empfohlene Zitierweise:
Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien 1933, Seite 230. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Freud_Neue_Folge_der_Vorlesungen_zur_Einfuehrung_in_die_Psychoanalyse_1933.pdf/230&oldid=- (Version vom 21.5.2018)