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und die Fortdauer seiner Schutzbedürftigkeit tragen mit einander seinen Glauben an Gott.

Auch der dritte Hauptpunkt des religiösen Programms, die ethische Forderung, fügt sich ungezwungen in diese Kindheitssituation ein. In einem berühmten Ausspruch ruft der Philosoph Kant[WS 1] die Existenz des gestirnten Himmels und die des Sittengesetzes in unserer Brust als die stärksten Zeugen für die Größe Gottes an. So befremdend diese Zusammenstellung klingt, – denn was mögen die Himmelskörper mit der Frage zu tun haben, ob ein Menschenkind ein anderes liebt oder totschlägt? – so streift sie doch an eine große psychologische Wahrheit. Derselbe Vater (die Elterninstanz), der dem Kind das Leben gegeben und es vor den Gefahren desselben behütet hat, belehrte es auch, was es tun darf und was es unterlassen soll, wies es an, sich bestimmte Einschränkungen seiner Triebwünsche gefallen zu lassen, ließ es wissen, welche Rücksichten auf Eltern und Geschwister von ihm erwartet werden, wenn es ein geduldetes und gern gesehenes Mitglied des Familienkreises und später größerer Verbände werden will. Durch ein System von Liebesprämien und Strafen wird das Kind zur Kenntnis seiner sozialen Pflichten erzogen, wird es belehrt, daß seine Lebenssicherheit davon abhängt, daß die Eltern und dann auch die Anderen es lieben und an seine Liebe zu ihnen glauben können. Alle diese Verhältnisse trägt dann der Mensch unverändert in die Religion ein. Die Verbote und Forderungen der Eltern leben als sittliches Gewissen in seiner Brust weiter; mit Hilfe desselben Systems von Lohn und Strafe regiert Gott die Menschenwelt,

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Immanuel Kant (Wikisource, Wikipedia).
Empfohlene Zitierweise:
Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien 1933, Seite 227. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Freud_Neue_Folge_der_Vorlesungen_zur_Einfuehrung_in_die_Psychoanalyse_1933.pdf/227&oldid=- (Version vom 21.5.2018)