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Wenn das der Charakter einer Weltanschauung ist, so wird die Antwort für die Psychoanalyse leicht. Als eine Spezialwissenschaft, ein Zweig der Psychologie – Tiefenpsychologie oder Psychologie des Unbewußten – ist sie ganz ungeeignet, eine eigene Weltanschauung zu bilden, sie muß die der Wissenschaft annehmen. Die wissenschaftliche Weltanschauung entfernt sich aber bereits merklich von unserer Definition. Die Einheitlichkeit der Welterklärung wird zwar auch von ihr angenommen, aber nur als ein Programm, dessen Erfüllung in die Zukunft verschoben ist. Sonst ist sie durch negative Charaktere ausgezeichnet, durch die Einschränkung auf das derzeit Wißbare und die scharfe Ablehnung gewisser, ihr fremder Elemente. Sie behauptet, daß es keine andere Quelle der Weltkenntnis gibt als die intellektuelle Bearbeitung sorgfältig überprüfter Beobachtungen, also was man Forschung heißt, daneben keine Kenntnis aus Offenbarung, Intuition oder Divination. Es scheint, daß diese Auffassung in den letztvergangenen Jahrhunderten der allgemeinen Anerkennung sehr nahe war. Unserem Jahrhundert blieb es vorbehalten, den überheblichen Einwand zu finden, eine solche Weltanschauung sei ebenso armselig wie trostlos, übersehe die Ansprüche des Menschengeistes und die Bedürfnisse der menschlichen Seele.

Man kann diesen Einwand nicht energisch genug zurückweisen. Er ist ganz haltlos, denn Geist und Seele sind in genau der nämlichen Weise Objekte der wissenschaftlichen Forschung wie irgendwelche menschenfremde Dinge. Die Psychoanalyse hat ein besonderes Anrecht,

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Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien 1933, Seite 220. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Freud_Neue_Folge_der_Vorlesungen_zur_Einfuehrung_in_die_Psychoanalyse_1933.pdf/220&oldid=- (Version vom 21.5.2018)