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XXXV. VORLESUNG.

ÜBER EINE WELTANSCHAUUNG

Meine Damen und Herren! Bei unserem letzten Beisammensein haben wir uns mit kleinen Alltagssorgen beschäftigt, gleichsam unser bescheidenes eigenes Haus bestellt. Nun wollen wir einen kühnen Anlauf nehmen und uns an die Beantwortung einer Frage wagen, die wiederholt von anderer Seite gestellt worden ist, ob die Psychoanalyse zu einer bestimmten Weltanschauung führt und zu welcher.

Weltanschauung ist, besorge ich, ein spezifisch deutscher Begriff, dessen Übersetzung in fremde Sprachen Schwierigkeiten machen dürfte. Wenn ich eine Definition davon versuche, wird sie Ihnen gewiß ungeschickt erscheinen. Ich meine also, eine Weltanschauung ist eine intellektuelle Konstruktion, die alle Probleme unseres Daseins aus einer übergeordneten Annahme einheitlich löst, in der demnach keine Frage offen bleibt und alles, was unser Interesse hat, seinen bestimmten Platz findet. Es ist leicht zu verstehen, daß der Besitz einer solchen Weltanschauung zu den Idealwünschen der Menschen gehört. Im Glauben an sie kann man sich im Leben sicher fühlen, wissen, was man anstreben soll, wie man seine Affekte und Interessen am zweckmäßigsten unterbringen kann.

Empfohlene Zitierweise:
Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien 1933, Seite 219. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Freud_Neue_Folge_der_Vorlesungen_zur_Einfuehrung_in_die_Psychoanalyse_1933.pdf/219&oldid=- (Version vom 21.5.2018)