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durch Mienen und Gebärden: Ja, das ist einer, der’s versteht. Wenig ahnte ich damals, unter welchen Verhältnissen ich einer analogen Situation wieder begegnen würde.

Ob nämlich einer ein Homosexueller ist oder ein Nekrophile, ein verängstigter Hysteriker, ein abgesperrter Zwangsneurotiker oder ein tobender Wahnsinniger, in jedem Fall wird der Individualpsychologe Adlerscher Richtung als das treibende Motiv seines Zustandes angeben, daß er sich zur Geltung bringen, seine Minderwertigkeit überkompensieren, oben bleiben, von der weiblichen auf die männliche Linie gelangen will. Etwas ganz ähnliches hatten wir als junge Studenten auf der Klinik gehört, wenn einmal ein Fall von Hysterie vorgestellt wurde: Die Hysterischen erzeugen ihre Symptome, um sich interessant zu machen, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Wie doch alte Weisheiten immer wiederkehren! Aber dieses Stückchen Psychologie schien uns schon damals die Rätsel der Hysterie nicht zu decken, es ließ z. B. unerklärt, warum die Kranken sich keiner anderen Mittel zur Erreichung ihrer Absicht bedienen. Etwas an dieser Lehre der Individualpsychologen muß natürlich richtig sein, ein Partikelchen für das Ganze. Der Selbsterhaltungstrieb wird versuchen, sich jede Situation zu Nutze zu machen, das Ich wird auch das Kranksein zum Vorteil wenden wollen. Man nennt das in der Psychoanalyse den „sekundären Krankheitsgewinn“. Freilich, wenn man an die Tatsachen des Masochismus denkt, des unbewußten Strafbedürfnisses und der neurotischen Selbstschädigung, die die Annahme von Triebregungen

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Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien 1933, Seite 197. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Freud_Neue_Folge_der_Vorlesungen_zur_Einfuehrung_in_die_Psychoanalyse_1933.pdf/197&oldid=- (Version vom 21.5.2018)