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mit der Neurose verbunden ist, und hält darum am Kranksein fest. Es scheint, daß dieses Moment, das unbewußte Strafbedürfnis, an jeder neurotischen Erkrankung beteiligt ist. Geradezu überzeugend wirken hier Fälle, in denen sich das neurotische Leiden durch ein andersartiges ablösen läßt. Ich will Ihnen von einer solchen Erfahrung berichten. Es war mir einmal gelungen, ein älteres Mädchen von dem Symptomkomplex zu befreien, der sie durch etwa 15 Jahre zu einer qualvollen Existenz verurteilt und von der Teilnahme am Leben ausgeschlossen hatte. Sie empfand sich nun als gesund, und stürzte sich in eine eifrige Tätigkeit, um ihre nicht geringfügigen Talente zu entwickeln und sich noch ein Stück Geltung, Genuß und Erfolg zu erhaschen. Aber jeder ihrer Versuche endete damit, daß man sie wissen ließ oder daß sie selbst einsah, sie sei zu alt geworden, um auf diesem Gebiet etwas zu erreichen. Nach jedem solchen Ausgang wäre der Rückfall in die Krankheit das nächste gewesen, aber das konnte sie nicht mehr zustande bringen; anstatt dessen ereigneten sich ihr jedesmal Unfälle, die sie für eine Zeit lang außer Tätigkeit setzten und leiden ließen. Sie war gefallen und hatte sich einen Fuß verstaucht oder ein Knie verletzt, bei irgend einer Hantierung eine Hand beschädigt. Aufmerksam gemacht, wie groß ihr eigener Anteil an diesen anscheinenden Zufällen sein könnte, änderte sie sozusagen ihre Technik. Anstatt der Unfälle traten bei den gleichen Veranlassungen leichte Erkrankungen auf, Katarrhe, Anginen, grippeartige Zustände, rheumatische Schwellungen, bis endlich mit der

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Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien 1933, Seite 150. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Freud_Neue_Folge_der_Vorlesungen_zur_Einfuehrung_in_die_Psychoanalyse_1933.pdf/150&oldid=- (Version vom 21.5.2018)