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das sei doch keine reale Gefahr. Unsere Knaben werden doch nicht kastriert, weil sie in der Phase des Ödipuskomplexes in die Mutter verliebt sind. Aber das ist nicht so einfach abzutun. Vor allem kommt es nicht darauf an, ob die Kastration wirklich geübt wird; entscheidend ist, daß die Gefahr eine von außen drohende ist, und daß das Kind an sie glaubt. Dazu hat es einigen Anlaß, denn man droht ihm oft genug mit dem Abschneiden des Gliedes während seiner phallischen Phase, in der Zeit seiner frühen Onanie, und Andeutungen dieser Strafe dürften regelmäßig eine phylogenetische Verstärkung bei ihm finden. Wir vermuten, in den Urzeiten der menschlichen Familie wurde die Kastration vom eifersüchtigen und grausamen Vater wirklich an den heranwachsenden Knaben vollzogen, und die Beschneidung, die bei den Primitiven so häufig ein Bestandteil des Mannbarkeitsrituals ist, sei ein gut kenntlicher Rest von ihr. Wir wissen, wie weit wir uns damit von der allgemeinen Ansicht entfernen, aber wir müssen daran festhalten, daß die Kastrationsangst einer der häufigsten und stärksten Motoren der Verdrängung und damit der Neurosenbildung ist. Analysen von Fällen, in denen zwar nicht die Kastration, aber wohl die Beschneidung bei Knaben als Therapie oder als Strafe für die Onanie vollzogen wurde, was in der anglo-amerikanischen Gesellschaft gar nicht so selten geschah, haben unserer Überzeugung die letzte Sicherheit gegeben. Es ist eine große Verlockung, an dieser Stelle näher auf den Kastrationskomplex einzugehen, aber wir wollen bei unserem Thema bleiben. Die Kastrationsangst ist natürlich

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Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien 1933, Seite 120. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Freud_Neue_Folge_der_Vorlesungen_zur_Einfuehrung_in_die_Psychoanalyse_1933.pdf/120&oldid=- (Version vom 21.5.2018)