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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

„Ein Billet erster Klasse bis Annenburg!“ sagte das Fräulein klar und bestimmt. „Wann sind wir in Annenburg?“

„Um fünf Uhr nachmittags!“ war die Antwort des dicken, rotbäckigen lettischen Kapitäns. Er stand am Schalltrichter. „Fertig!“ rief er dann in den Maschinenraum hinab.

Von kräftigen Bauernfäusten wurde der Brettersteg auf den Dampfer gezogen, noch einmal ertönte wütend und verdrossen zugleich der trompetenartige Ton der Dampfpfeife, und fauchend und prustend begann das Fahrzeug sich leise zu drehen.

So, als gewönne das häßliche kleine Dampfschiff durch die Bewegung allmählich ein wenig gute Laune wieder, stieß es jetzt noch einen heisern Schrei aus und paddelte in zorniger Geschäftigkeit stromaufwärts. Mitaus Häuserreihen strichen langsam vorüber, das Schloß, die Trinitatiskirche, die alte Mühle auf dem andern Ufer streckten sich neugierig, die Eisenbahnbrücke wölbte sich einige Momente über dem gedrungenen Schornstein des Dampfers, und links und rechts breiteten sich flache grüne Ufer mit bewaldeten Strecken vor den Augen der jungen Dame.

Sie stand in Gedanken versunken am Schiffsrand und blickte mit großen grauen Augen in die bläulichen Waldfernen. Sonnen­schirm und Plaidriemen lagen auf der Bank; ihr Koffer nahm sich neben dem eleganten Gepäckstück des Herrn recht bescheiden aus, obgleich er viel größer war.

Hinter ihr, auf der gegenüberstehenden Bank, hatte sich der Herr niedergelassen. Er hielt sein offenbar steifes Bein von sich

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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/9&oldid=- (Version vom 31.7.2018)