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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

Während des Lesens schwoll eine mächtige Zornesader an der Stirn des Barons. „Ich denke, das genügt!“ sprach er, und mit der Gebärde des Ekels faltete er das saubere Schriftstück wieder zusammen und schob es in seine Rocktasche. „Eins vor allem ist mir klar: Sollen wir uns in dieser unerhörten Weise ruhig weiter beschimpfen lassen, ohne nur einen Finger zu rühren? Nein! sage ich. Zusammenhalten sollen wir, alle miteinander, Adel, Geistlichkeit und Bürgerschaft! Aufhören sollen die kleinlichen Sonderinteressen, soll das beständige Gekniffensein! Zus­ammenstehen sollen wir Deutsche alle, denn wir haben die gleichen Heiligtümer zu wahren. Und eine Lehre sollen wir uns ziehen aus dieser dunklen Zeit: aufgeben sollten wir unsern Adels- und Literatenhochmut! Habe ich nicht recht, Herr Kandidat?“

„Sie haben mir aus der Seele gesprochen, Baron Osterloh,“ sagte Ernst Philippi warm. „Jeder an seinem Teil sollte vor seiner Tür kehren und sich des Guten erinnern, das jeder Stand von dem andern empfangen hat.“

„Das ist ein gutes Manneswort!“ rief der alte Herr und schüttelte seinem Gast die Hand.

Man stand vom Tische auf, und Ernst Philippi fand Gelegenheit, Baron Osterloh seine Bitte vorzutragen. Sie wurde in der ehrlichen warmen Weise, die dem alten Herrn eigen war, genehmigt, und erleichterten Herzens fand sich der junge Mann unterwegs nach Finkenhorst.

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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 74. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/74&oldid=- (Version vom 31.7.2018)