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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

Friedlich und winterselig breitete sich wieder die weite Ebene vor ihm aus, nur ab und zu von niedrigem Buschwerk umstanden, das in der Sonne leuchtete wie weißes Korallengezweig. Ein stiller Wassertümpel hob sich in seiner weißen Umgebung dunkel hervor wie eine zerbrochene Spiegelscherbe. Weißbedachte Gesindehäuser und Bauernhütten guckten aus neugierigen, vom Alter mattgrün gefärbten kleinen Fensterscheiben dem vorüber eilenden Gefährt nach, und ein lichter Himmel spannte sich über das flache Gelände.

Ernst Philippis Gedanken weilten bei Claire. Sein Herz klang und blühte mitten in des Winters Stille und wiegte sich in ferne selige Träume. „Liebe ist Mut“ hatte sie gesagt. Welch vornehmes, feines und doch so selbstverständliches Wort! Wie war sie in ihrer Liebe aufgeblüht, wie hatte sich ihr stilles, ernstes Wesen entfaltet wie eine heitere, seltene Blume! Und wieder mußte er an ihre Begegnung auf dem Dampfschiff denken – „Schiffe, die nachts sich begegnen“.

Das Rollen eines Bauernfuhrwerks schreckte ihn aus seinem Sinnen. Johlende heisere Stimmen klangen mißtönig durch den stillen Winterfrieden. Er sah einen Moment in ein paar rohe betrunkene Gesichter und klirrend zerschellte eine leere Flasche an seinem Wagen. Sie war für seinen Kopf bestimmt gewesen.

„Mit solchen Kleinigkeiten halten wir uns heutzutage nicht mehr auf!“ murmelte er in grimmiger Selbstironie und faßte die Zügel fester.

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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 71. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/71&oldid=- (Version vom 1.8.2018)