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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

einer Pikaßkarte mitten ins Herz – Entfernung zwanzig Schritt.“

„Bravo, bravo!“ sagte der Baron lachend. Allmählich war er aus seiner formellen Zurückhaltung getreten, dann zuckte er die Achseln. „Tja, wissen Sie, das ist auch so eine überkommene Tradition, daß ein Pastor sich nicht wehren darf. Selbstverständlich nicht, solange er auf der Kanzel steht, aber das seh’ ich doch wahrhaftig nicht ein, weshalb ein Pastor sich von so einem lettischen Strolch und Raubmörder auf einer Fahrt zum Beispiel oder im Hause sollte wehrlos herunterschießen lassen. Da ist er eben Privatperson wie Sie und ich.“

„Ganz so denke ich auch,“ erwiderte Ernst Philippi. „Dazu kommt aber heute noch etwas Besonderes: außerordentliche Verhältnisse bedingen ein außerordentliches Verhalten.“

„Ganz ausgezeichnet,“ stimmte der Baron zu. „Und zu außerordentlichem Verhalten haben wir wahrhaftig reichliche Gelegenheit. Auf Wiedersehen also morgen, Herr Kandidat, wir sind sicher zur Stelle. Der Gottesdienst beginnt um zehn?“

„Um zehn, Baron Reuter. Bitte, empfehlen Sie mich gütigst Ihrer Frau Gemahlin.“

Die Herren schüttelten einander kräftig die Hände. Sie hatten einander gut gefallen.

„Hätten wir doch mehr Geistliche von der Sorte!“ murmelte der Baron. „Kronenthal hat Glück – das muß man sagen.“

Ernst Philippi saß wieder auf seiner Reitdroschke. „Auf nach Rausuppen!“ sagte er halblaut.

Empfohlene Zitierweise:
Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 70. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/70&oldid=- (Version vom 31.7.2018)