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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

Sie lachte hell auf. „Sie ist ein ganz eigentümliches Wesen,“ sagte sie nachdenklich, „durch und durch eine künstlerische Natur und von einer fabelhaften Harmlosigkeit, die sich mit einer seltsamen Schärfe der Beobachtung paart. Das Verhältnis zwischen beiden ist erquickend und erhebend zugleich.“

Arm in Arm waren sie durch die entblätterte junge Lindenallee geschritten, jetzt nahm der schneeige keusche Wald sie auf.

„Sieh, wie wunderbar schön!“ rief Claire andächtig.

Er schlang seinen Arm um sie. „Claire,“ fragte er, „könntest du Landpfarrerin sein?“

„Ich wüßte mir nichts Schöneres!“ rief sie enthusiastisch. „Weshalb aber fragst du?“

„Ich habe es all diese Wochen mit mir herumgetragen,“ sprach er bewegt, „und wagte nicht, daran zu glauben; aber ich meine, ich hoffe, auch ich könnte am Ende meinen bescheidenen Platz als Pastor ausfüllen; nicht in der genialen Weise wie Robert Berger .. ich habe an seiner Seite den Beruf lieben gelernt, Claire!“

„Ernst!“ Sie flog ihm jubelnd an die Brust. Lange hielten sie sich umschlungen.

Erschüttert sprach er wieder: „Ich bin innerlich frei geworden! Eine drückende Fessel um die andre ist von mir abgeglitten. Nicht kampflos auf ausgetretenen Pfaden sollen wir wandeln, sondern auf ein tägliches Mitleben und Erleben unsers Berufs kommt es an, auf ein tägliches schöpferisches Neugestalten;

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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 60. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/60&oldid=- (Version vom 31.7.2018)