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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

„Es fällt mir schwer, aber Sie sollen’s wissen. Ich bin einmal unehrlich gegen einen Menschen gewesen, und da fragte ich mich, ob ich mich ohne weiteres zu den anständigen Menschen zählen dürfe, denen Ehrlichsein so selbstverständlich ist.“

„Und was antworteten Sie sich?“ fragte er mit leisem Lächeln.

„Ich sagte mir, daß ich damals noch sehr jung war, und daß ich seitdem ehrlicher geworden bin.“

Jetzt lastete ein andres Schweigen auf ihnen. Es war bleiern und schwer. Claire fühlte ihr Herz pochen. Trapp, trapp, liefen die Pferde in gleichmäßigem Schritt.

„Betraf es jenen lettischen Verwalter?“ fragte Ernst Philippi plötzlich.

„Ja,“ flüsterte sie. „Er liebte mich, und – das machte mir Spaß. Ich quälte und neckte ihn, und als er mir seine Liebe gestand, lachte ich ihn aus und gab ihm einen Korb. ‚Ich bin ja nur ein Lette‘ sagte er mir da, ‚mit einem Herrensohn hätten Sie nicht zu spielen gewagt.‘ Ich weinte und bat ihn um Vergebung. An Rassen- oder Standesunterschiede hätte ich nie gedacht, ich war ja noch ein halbes Kind. Er aber ging von mir in bitterem Groll und vergab mir nicht. Seitdem bin ich ernst und ehrlich geworden und erlaube auch niemandem, mit mir zu spielen.

„Claire!“ rief er bittend.

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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 38. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/38&oldid=- (Version vom 1.8.2018)