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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

„Das sind Einzelfalle,“ sagte Ernst Philippi. „Bedauerliche Einzelfalle gibt es überall.“

„Ich muß Ihnen widersprechen,“ fuhr das junge Mädchen fort. „Der betreffende junge Mann hat aus einer Reihe von Erfahrungen das gleiche Fazit gezogen wie ich, und er ist doch hierin kompetent.“

„Gewiß, er ist kompetent, und ich will Ihnen zugeben, daß wir hartnäckige eingewurzelte Fehler haben. Wer hat sie nicht? Auf die Schwächen des Gegners gründet sich ja jede Politik. Und auch einen andern Vorwurf kann ich uns Balten nicht ersparen: wir hätten vor Jahrhunderten bereits die Letten germanisieren sollen, dann hätten wir jetzt eine Schutzwehr, ein Volk hinter uns. Nun aber warteten wir human und lässig, bis die Regierung sie uns russifizierte. Die jungen Streber sogen in russischen Schulen antigermanische Ideen ein, die Söhne lettischer Bauern und Wirte trugen sozialistische, ja regierungs­feindliche Pläne in den unreifen Köpfen mit heim und wurden in ihrer traurigen Halbbildung von ihren Vätern als Wunder der Gelehrsamkeit angestaunt. Die russischen Lehrer sympathi­sierten selbst zum großen Teil mit diesen sogenannten „Freiheitsbestrebungen“, und so wuchs eine halt- und marklose Generation heran, hin und her geschleudert zwischen altruistischem Volksbeglückungswahn und frecher Insubordination. Das Vertrauen zwischen Lehrern und Schülern existiert nur noch als Mythus, und Frechheit und Halbheit regieren die Welt! O, wie weit, wie

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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 33. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/33&oldid=- (Version vom 31.7.2018)