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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

Und nun wollte sie nach Mitau.

Der Fluß führte direkt bis vor die Mauern des alten kurländischen Städtchens, aber das Eis war noch unsicher, und diesseits des Flusses mochte sie nicht wandern. Sie wollte bekannten Gesichtern nicht mehr begegnen. Ihr Leben bisher sollte ausgelöscht und vergessen sein.

Also mußte sie hinüber.

Drüben winkte ein neues Leben. Jenseits des Flusses war das neue, das unbekannte Land, das neue Leben, nach dem sie sich sehnte. Der Fluß, ihr alter Freund, führte sie auf geradem Wege dorthin, wo jemand sie lieb hatte und vielleicht nötig hatte.

Sie mußte über den Fluß.

Zögernd klomm sie die steile Böschung hinunter und setzte den Fuß auf das junge Eis.

Noch einmal sah sie sich um. Am gottblauen Himmel stand die Sonne siegreich und heiter und warf jubelnde Strahlen auf das funkelnde Eis, auf das erstarrte Gelände drüben und die blauen fernen Tannenwälder.

Und noch einmal stand ihre Kindheit in heller Ferne vor ihrer Seele. Sie mußte an die Märchen der toten Großmutter denken, an den Regenvogel, der nicht mit hatte helfen wollen, als die andern Tiere auf das Geheiß Gottes fleißig gruben, um Flüsse und Ströme zu schaffen.

Und über ihr düsteres Gesicht flog das erste Lächeln seit vielen langen Tagen.

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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 279. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/275&oldid=- (Version vom 1.8.2018)