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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

gütigen Herrn in den Fluß gestoßen. Gestern nachmittag ist es der Polizei endlich gelungen, die Leiche zu finden.“

Er machte eine längere Pause. Die Köpfe beugten sich vor, ein dumpfes Gemurmel ging von Mund zu Mund.

„Gemeinde des Herrn!“ begann der alte Mann wieder und reckte seine gebeugte Gestalt hoch empor. „Ich klage wider dich beim Throne Gottes! Ich muß wider dich klagen. Dem Mörder stehe ich noch nicht gegenüber und kann ihn seiner furchtbaren Schuld nicht überweisen, doch die Zeit wird kommen, denn das gerechte Auge Gottes schläft nicht. Dich aber, meine langjährige Gemeinde, klage ich an, denn der Geist der Empörung, des Aufruhrs, der Unzucht und des Mordes geht wie ein zehrendes lüsternes Fieber in dir um. Aus deiner Mitte hat sich die Mörderhand erhoben, dein böser, unbotmäßiger Geist war es, der die Klinge führte. Darum klag’ ich dich an! Wie kann ein Geist der Ordnung, der Gesittung und Treue eine solche Tat vollbringen? Ihr steht unter einem bösen Geist – deshalb klage ich wider euch. Und ich klage mich an, Gemeinde des Herrn! Ich bin mit schuld an der Tat. Ich habe es nicht verstanden, euer Vertrauen zu gewinnen, eure Seelen vor der Ruchlosigkeit zu bewahren. Ich bin ein unnützer Knecht gewesen all die vielen Jahre hindurch, und darum will ich mein Amt verlassen!“

Ein leises Schluchzen ging durch die Reihen der Frauen.

„Nein! Nein!“ schallten vereinzelte Rufe.

„Der Haß zwischen Letten und Deutschen ist künstlich gesät,“

Empfohlene Zitierweise:
Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 273. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/269&oldid=- (Version vom 31.7.2018)