Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit | |
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Linda Zehse fuhr mit den roten Fingern tastend am Rock hin und her. „Er ist zu kurz!“ sagte sie endlich.
„Er ist genau eine Handbreit vom Boden entfernt,“ erwiderte Darthe. „So hattet Ihr’s bestellt.“
„Es ist gut!“ meinte die Wirtstochter verdrießlich. „Hakt ihn wieder auf. Ich bin Euch achtzig Kopeken schuldig.“
„Neunzig Kopeken!“ sagte Darthe scharf.
„Ach ja, ich vergaß!“
Sie zog eine grünseidene gehäkelte Börse aue der Tasche und zählte Darthe umständlich das Geld in die Hand.
Der neue Rock lag am Boden.
„Legt den Rock doch ordentlich zusammen,“ befahl Linda Zehse, „und kommt in spätestens drei Tagen wieder. Könnt’ sein, daß ich noch vieles brauchen tät.“
Ein triumphierend lauernder Blick fuhr aus den hellblauen Augen in die schwarzbraunen Darthes.
Gemächlich faltete Darthe das Tuch zusammen, in dem sie den Kleidrock getragen, und faßte die Türklinke.
„Lebt wohl, Zehsetochter,“ grüßte sie kurz.
Mit hochmütigem Nicken beantwortete die Wirtstochter den Gruß.
Die Bank vor der Haustür war leer. Grendsche-Jehkab hatte sich eilig davongeschlichen.
„So ein Lump!“ knirschte Darthe zwischen den Zähnen, „so ein elender Lump!“ Dann warf sie den Kopf zurück und
Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 266. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/262&oldid=- (Version vom 31.7.2018)