Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit | |
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Er zuckte zusammen, ein freudiger Schreck fuhr ihm durch die Glieder. Ein weites großes Glücksgefühl erhob sich in seiner Seele. Impulsiv stand er auf und machte einige Schritte zu seiner Reisegefährtin hin. Erstaunt blickte sie auf.
„Ich danke Ihnen,“ begann er bewegt, „für die schönen Stunden unsers heutigen Zusammenseins. Ich habe noch nie so ehrlich mit jemandem von mir selbst geredet. Es war mir Bedürfnis, Ihnen das zu sagen, Fraulein Claire – – Claire!“ rief er.
Ihm war, als sähe er einen breiten glänzenden Strom vor sich, und stände er auf einer schwebenden Brücke, unter sich den glitzernden Strom ...
Sie sah ihn ruhig an, und der glitzernde Strom versank in ein Nichts, die schwebende Brücke verschwand. Er stand auf einem kleinen zornigschnaubenden Dampfer, und vor ihm saß eine junge wohlerzogene Dame, die eine neue Gouvernantenstellung antrat, und las in einem Buche: „Schiffe, die nachts sich begegnen“, und er war ein lahmer Theologe, ein gebrochener Mann ...
Eine dunkle Röte der Verlegenheit flog über ihre Stirn. „Ich weiß nicht, was ich jetzt sagen soll, Herr Philippi – ich ... ich danke Ihnen für ihr Vertrauen, ich spreche mich auch ungern über mich selbst aus; heute tat ich es, und Tante Griseldis hätte sich sicher sehr über mich gewundert.“
Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/22&oldid=- (Version vom 1.8.2018)