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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

In der Ferne hatte der Orkan getobt: Krieg! Krieg! Der unselige Krieg mit Japan! Niemand war begeistert gewesen, Tausende hatten sich entrüstet und empört, und die Empörung war zur bleibenden Stimmung geworden. Hier aber im kleinen Ländchen mit der alten Bildung, mit der festen Treue, mit der soliden Arbeit, hier hatte man Wind gesät; was Wunder, daß nach Jahrzehnten der Sturm losbrach, der nicht mehr zu stillen war!

Wind war gesät. Die Letten hatten begonnen, die Russen hatten vollendet. „Lettland den Letten!“ so murmelte man zu­ erst leise zwischen den Zähnen. „Nieder mit den Deutschen!“ so brüllte man schließlich aus voller Brust.

Russische Bildung der russischen Provinz Kurland. Das war die windige Losung gewesen. Welche Bildung hatte Rußland zu geben? Die Russen selbst sprangen aus der Unbildung in die Überbildung, aus dem Bauernhemd in die Staatsuniform, die Bildung blieb aus – das gibt einen bösen Sturz. Überdruß und Weltschmerz sind die Folgen.

Dieser Wind wehte durch das Land. Immer stärker, immer heißer wehte er von Dorf zu Dorf, von Gesinde zu Gesinde. Die Bauernsöhne kehrten aus der Stadt zurück – Helden der Phrase, zu „fein“ für die Landarbeit, „zu gut“ für die alte Treue, faul und frech. Sie schimpften und hetzten, und sie waren die Klugen. Die jungen Volkslehrer mit der neuen russischen Vorbildung, sie hatten das Nichts auf ihrer Fahne, das Nichts in ihrem Gewissen.

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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 217. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/213&oldid=- (Version vom 31.7.2018)