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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

muß das für eine bewunderungswürdige Frau sein!“ murmelte er in Gedanken versunken.

Eine rasche Antwort unterdrückend sagte das junge Mädchen mit leisem Spott: „Sie hätten in ähnlichem Fall eine Frau nicht nötig; Sie können ja sehen.“ Dann nahm sie ihr Büchlein wieder auf und fuhr fort zu lesen.

Nachdenklich setzte sich Ernst Philippi auf seinen früheren Platz. Eine trübe Stimmung war leise über ihn gekommen. Verstohlen betrachtete er das junge Mädchen. Ihr schmaler Fuß mit dem hohen Blatt bewegte sich nervös tippend auf und nieder. Ihre ganze feine, zierliche Gestalt hatte etwas von der geschlossenen Elastizität eines jungen Rehs. Die kleine Hand mit dem bläulichen Geäder hielt das Büchlein, und an der Bewegung ihrer Lider sah er, wie schnell sie die Zeilen überflog.

„Schif–fe, die nachts sich be–geg–nen,“ buchstabierte er mühsam zusammen. Ob sie auch schon ihrem Schiff begegnet ist? fuhr es ihm durch den Sinn. In der Mädchenpension – ha ha! Aber später vielleicht auf ihren beiden Stellungen. Wer kann’s wissen? Er starrte gedankenvoll auf die vorbeifliegenden grünen Ufer, und ein unerklärliches Gefühl legte sich ihm schwer auf die Brust. Eine Ziegelbrennerei mit hohem Schlot erhob sich vor ihm, graugrünes Weidengebüsch, ärmliche Niederlassungen, ein paar saubere lettische Ziegelhäuser ... Schiffe, die nachts sich begegnen, summte es in ihm fort. Warum auch nicht tags? Schiffe, die tags, die heute sich begegnen!

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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 21. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/21&oldid=- (Version vom 31.7.2018)