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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

„Nein, ich will sie selbst behalten Wolf.“

„Du!“ sagte Wolf und maß seinen Kameraden von oben bis unten, „das ist ruppig von dir. Ich bin doch dein Gast, und gegen Gäste muß man liebenswürdig sein.“

Der kleine Pastorssohn besann sich eine Weile. „Höre,“ sagte er zögernd, „wir machen alle drei zuvor einen Wettlauf. Wer am schnellsten laufen kann, der bekommt die Dohle. Du, Jehkab, stell die Dohle hin, wir wollen alle laufen.“

„Aber da fliegt sie doch fort, Jungherrchen!“ sagte der hübsche Jehkab und lachte, daß seine Zähne blitzten. Suchend blickte er um sich. „Wir können ihr ja die Flügel binden. Nein warten Sie!“ Er sprang auf die kleine Darthe los. „Du bist Semmits Meiting[1] – nicht? Wart, halt mal die Dohle – und paß auf, daß sie nicht davonfliegt. Wir wollen alle laufen!“

Zögernd nahm Darthe den großen schwarzen Vogel in Empfang und preßte ihn fest an sich. Ihre Augen leuchteten vor Vergnügen, und sie nickte eifrig zwei-, dreimal.

„Halt ihn ja fest, Kleine!“ rief der kleine Baron. „Und jetzt – stellen wir uns auf – dort bis zum großen Weidenbusch laufen wir. Eins, zwei, drei!“

Die Knaben standen vorgebeugt in erwartungsvoller Haltung, den rechten Fuß vorgestreckt, die Augen aufs Ziel gerichtet.

„Los!“ schrie der kleine Baron.

Pfeilschnell ging es über die grüne Wiese dahin. Der kleine

  1. Meiting=Töchterchen
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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 200. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/196&oldid=- (Version vom 18.8.2016)