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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

Flußwasser gab es nirgends. Da rief der liebe Herrgott alle Tiere der Erde zusammen, die Wölfe und Bären und Hunde, die Katzen und Ratten und Mäuse, die Pferde und Kühe und Kälber und alle Schafe und Ziegen und Lämmer, – und alle Vögel rief er zusammen, die Hühner und Gänse und die Vögel, die im Walde fliegen, und befahl ihnen tiefe Straßen zu graben, ein jedes nach seinen Kräften, damit sich das Regenwasser darin sammle. Und alle Tiere kamen herbei und gruben emsig, die großen vierfüßigen Tiere mit ihren Tatzen und Klauen, die Vögel mit ihren Krallen und Schnäbeln, und nur einer von ihnen, der Regenvogel, der drückte sich beiseite und half nicht mit bei der Arbeit. Und so waren die Flüsse und Bäche entstanden, und der liebe Herrgott lobte alle Tiere und war mit ihnen zufrieden. Da er aber alles weiß und alles sieht, so wußte er auch, daß der Regenvogel nicht mit bei der Arbeit gewesen war, und er rief ihn und sagte: ,Regenvogel, warum hast du nicht mitgeholfen?’

,Ich wollte nicht’ sagte der Regenvogel trotzig.

,So?’ sagte der Herrgott und schüttelte den Kopf, ,du wolltest nicht? Nun sollst du aber zur Strafe nimmer Wasser aus dem Fluß trinken, wie die anderen Tiere, sondern nur Regenwasser. Von den nassen Gräsern und Blättern sollst du die Regentropfen auffangen mit deinem Schnabel, und darum sollst du immer Sehnsucht nach Regen haben und ihn voraus verkünden, ehe er kommt!’ Seitdem – sieh mal – schreit der

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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 196. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/192&oldid=- (Version vom 1.8.2018)