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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

wollte die Kanzel zu einem Beruf mißbrauchen, den ich nicht in mir fühlte. Ich erklärte meinem Vater meinen Zwiespalt. Er konnte oder wollte mich nicht verstehen, und da kam es so weit, daß ich ihm, dem Erben einer Theologengeneration, auseinandersetzen mußte, daß mir die Kanzel zu heilig sei, um sie zum Piedestal meines bürgerlichen Vorwärtskommens zu erniedrigen. Es gab einen Riß zwischen ihm und mir, und ehe der verheilte, traf ihn der Schlag, und er starb.“

Leise und monoton hatte Philippi gesprochen. Trübe fuhr er fort: „Was bin ich jetzt? Ein Theologe ohne Beruf! Ein Künstler ohne das primitivste Handwerkzeug – ein Krüppel, nicht nur am Körper, ein Krüppel auch an der Seele – der Erbe und Kummer meines verstorbenen Vaters, die Enttäuschung meiner Familie – – eine traurige Mißgeburt also!“ Er lächelte bitter. Unablässig schlug er seinen Triller auf der Tischplatte.

„Sie sind ein ehrlicher Mensch!“ sagte plötzlich die Stimme der jungen Dame fest und laut. „Und das sind nicht viele!“

Er blickte auf. Das junge blasse Mädchengesicht ihm gegenüber leuchtete von Wärme und Mitgefühl. Die dunklen Härchen über den kleinen Ohren zogen sich kraus zusammen und glänzten in der Sonne. In diesem Augenblick war sie schön.

Er streckte ihr die Hand entgegen. „Ich danke Ihnen,“ sagte er einfach. „Es ist mir lieb, daß Sie eine gute Meinung von mir haben, obwohl“ – er lächelte sarkastisch – „das Ehrlichsein noch herzlich wenig sagen will.“

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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/19&oldid=- (Version vom 1.8.2018)