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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

„Jahnit, Jahnit, schrei nicht so!“ rief die kleine Darthe weinerlich und begann darauf mit schrillem Stimmchen ein lettisches Kinderlied zu singen.

„Drüben auf der Wiese
Geht ein weißer Storch –“

„Wai Gottchen, Gottchen!“ stöhnte die alte Großmutter, die gelähmt in der rauchgeschwärzten Stube auf dem Strohsack lag – „wai Gottchen, Gottchen! Ist das ein Kreuz mit den Kindern! Darthing, Darthing, so komm doch her, Kind, wenn die Großmutter ruft!“

„Ich komme ja schon, Großmutter!“ schrie das Kind mit trotzig aufgeworfener Oberlippe, dann packte sie das brüllende Bündel und schleppte es keuchend in die warme Stube. Unsanft legte sie es auf das Fußende des Bettes. Die Alte richtete sich stöhnend auf und betrachtete das Kleine. Unter den weißen Brauen sah sie drohend die kleine Missetäterin an. „Hast du ihm was getan, Darthe?“ fragte sie streng. „Antworte!“

Stumm stand das Kind da mit gesenkten Wimpern und steckte statt aller Antwort den Finger in den Mund.

„Du hast ihm was getan!“ ächzte die Großmutter. „Das ist eine große Sünde. Dich wird der Pfarrer holen, – der steckt dich in einen schwarzen Sack und trägt dich geradewegs in die Hölle. Da wirst du zeitlebens braten!“

Erschrocken sahen die Kinderaugen zu der Alten auf und blinzelten unsicher.

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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 192. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/188&oldid=- (Version vom 31.7.2018)