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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

Allem ein nordischer grauer Himmel. Kapelle reiht sich an Kapelle und der Friedhof streckt sich in unabsehbarer Weite längs der Meeresküste hin.

Nordisches karges Gesträuch, Wachholdergebüsch und ragende Kiefern mit leuchtend roten Stämmen beschatten kümmerlich die endlose Reihe von Gräbern. Gräber, Gräber überall. Kleine schmucklose Holzkreuze, schief und zerfallen, und darüber heult der Sturm mit lautem winselnden Klageton.

Und das näselnde Singen der Brüder vermählt sich mit dem Klagegesang des Sturmwindes und dröhnt darüber hinaus in schauerlichem Wechselgesang.

Armut, kümmerliche Armut ringsumher, – Kinder mit eingefallenen bleichen Wangen und fast alle von der furchtbaren Pockenkrankheit entstellt, krüppelhafte Bettler, schleichende Greise. Und alles eng, eng, wie zugeschnürt von der verständnislosen Frömmigkeit und Gleichgültigkeit gegen menschliches Elend.

Ein Mann wandelt den Friedhof entlang, ein Fremder. Er trägt seine eigenen Züge. Erstaunte fanatische Gesichter aus schwarzen Kutten begegnen ihm – fragende Blicke ... die dürre gelbe Hand, die sich zum Zeichen des Kreuzes erhoben hat, zuckt zurück. „Ein Fremdling ... ein Ungläubiger? Was suchst Du, Friedloser, in unserem Reich?“

Ein harter Blick aus glühenden Augen trifft den Mann und schuldbewußt und friedlos eilt er weiter. Arme Bettelkinder strecken ihre kleinen mageren Händchen nach einer Gabe aus.

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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 183. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/181&oldid=- (Version vom 1.8.2018)