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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

Der Weg war einsam und öde. Eine weite Fläche von beschneiten Feldern, hier und da ein verkrüppelter Weidenstumpf mit tausend verästelten Zweigen, – darüber ein grauer schwermütiger Himmel, von einem fernen blauen Tannenwald begrenzt. Leicht und schnell glitt der Schlitten über den taufeuchten Schnee. In der Ferne hob sich wetterfest und wuchtig der runde Schloßturm.

Beharrlich und ruhig schritt Stepan Nikolaitsch vorwärts. Auf dem halben Wege zum Pastorat kehrte er plötzlich um, wie auf höheren Befehl, und ging denselben Weg langsam zurück.

Da sab er auch schon die hohe vornehme Gestalt des Mannes, den er töten wollte. Schlank und sicher, einen Spazierstock in der Hand, den spitzen Hut schräg aufgesetzt, kam der Baron in ruhiger Gemächlichkeit ihm entgegen, jeder Zoll ein Aristokrat.

Mit sonderbarem und gierigem Interesse betrachtete ihn Stepan Nikolaitsch, wie er so leicht und elegant daherkam. Keine Spur von Haß regte sich in seiner Seele, nur der dumpfe unabänderliche Wille: Ich muß und ich werde ihn töten.

Jetzt waren die beiden Männer nur noch sechs Schritt von einander entfernt. Mit einem leisen Erstaunen hob der Baron die breiten schweren Augenlieder – er hatte den sonderbaren Gesellen erkannt, der ihn im Flur des Notars so seltsam angestarrt hatte.

Einen Augenblick sahen sich die Männer in die Augen. Blitzschnell fuhr Stepan Nikolaitsch in die Rocktasche, zielte, feuerte und traf.

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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 176. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/174&oldid=- (Version vom 1.8.2018)