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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

„Er ist krank!“ erklärte Krisch gönnerhaft seinen Kameraden. – „Er war schon beinahe tot, darum ist es nicht richtig mit ihm.“

Es war nicht richtig mit ihm, denn er hatte keinen eigenen Willen mehr. Er stand unter fremdem Willen und ging einher wie ein Schlafwandelnder.

Die furchtbare seelische Erschütterung, der festgewurzelte Wahn, daß er Wally vor Sünde und Schuld bewahren müsse, dazu der dämonische Einfluß des Popen hatten den stillen, harmlosen, kleinen Mann völlig umgewandelt. Wie ein leidenschaflicher Jäger, der nicht ruht, bis er sein Wild beschlichen und gestellt, so verfolgte Stepan Nikolaitsch mit stiller Zähigkeit die Fährte des Barons. Früher hatte er nie auf sein Aussehen geachtet, der spitze Hut und die Lodenjoppe, das waren seine einzigen Kennzeichen, – jetzt merkte er sich die Züge seines Opfers und schlich ihm nach, wo er konnte.

Vor einer Stunde hatte er ihn heute zum Notar hinein­gehen sehen. Im Flur hatte Stepan Nikolaitsch zwei volle Stunden gewartet mit glühenden Augen und zusammengepreßten Zähnen. Auf der Post holte der Baron seine Briefschaften ab und Stepan Nikolaitsch hörte, wie er seinem Kutscher befahl: „Fahre nur voraus ins Pastorat, ich habe noch einen Gang vor.“

Der Volksschullehrer sah die schlanke vornehme Gestalt des Mannes in der Apotheke verschwinden und schlug sofort die Richtung zum Pastorat ein.

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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 175. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/173&oldid=- (Version vom 1.8.2018)