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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

Jetzt war keine Zeit mehr zum Besinnen, es mußte gehandelt werden. Er zog einen blinkenden Gegenstand aus der Tasche und sagte ruhig im selbstverständlichsten Tone: „Da nimm, Bruder und ziele gut.“

Und Stepan Nikolaitsch nahm den Revolver ...

Mit freudeglänzenden Augen sah Krisch seinen Lehrer an. „Hier der Branntwein!“ keuchte er und hielt die Flasche hoch.

Der Geistliche entkorkte die Flasche. „Trinken Sie, Stepan Nikolaitsch.“

Auch diesmal gehorchte der Volksschullehrer und nahm ein paar Schluck. Seine Augen blickten stumpf und trübe.

„Stepan Nilolaitsch ist krank“, sagte Vater Nikiphor zu Krisch – „Geh nach Hause, Junge!“

Krisch warf einen fragenden Blick auf den Lehrer und trollte sich betrübt, die Flasche unterm Arm. Wortlos schritten die beiden Landsleute durch den Flecken heimwärts.

Stepan Nikolaitsch warf sich in Kleidern auf sein Bett und schlief schwer und dumpf bis zum hellen Morgen.

Von nun an war er ein Anderer. Er begann seine Kleidung zu vernachlässigen. Der sonst so peinlich saubere Mensch ging mit struppigem Haar, unordentlichem Halskragen und ungewichsten Stiefeln in seine Klasse. Beim Unterricht war er heftig und ungeduldig. Der geringste Umstand konnte ihn reizen und dennoch war er eigentlich nicht recht bei der Sache. Befremdet stand die Schuljugend ihrem gütigen Lehrer gegenüber.

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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 174. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/172&oldid=- (Version vom 1.8.2018)