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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

Von nun an war es Stepan Nikolaitsch Bedürfnis, ja Notwendigkeit geworden, täglich auf die barönliche Equipage da draußen hinter der Brücke zu warten.

Wochen und Monate strichen vorüber. Wochen und Monate aus einzelnen kleinen Augenblicken, öden Stunden und schmerzvollen Tagen geflochten und gewoben im rätselhaften Gewebe der Zeit. Dennoch enthielt jeder einzelne Tag für den Lehrer einen Licht- und Höhepunkt, einen Auf- und Niedergang, den Moment, wo er die anmutige Gestalt des jungen Mädchens im Federhut an sich vorüberrollen sah. Aber auch in diesem flüchtigen Moment gab es Höhen und Tiefen, – Höhen, wenn sie ernst und schweigsam an ihm vorüberflog, – Tiefen, wenn sie sich lachend wie in übermütigem Spiel zu ihrem Begleiter beugte.

An die Stelle des barönlichen Wagens war jetzt ein barönlicher Schlitten getreten, denn der Winter war gekommen. Statt des Federhutes saß eine kecke Pelzmütze flott und ein wenig schief über dem geliebten Gesicht. Das waren Veränderungen, die Stepan Nikolaitsch bemerkte, sonst gab es für ihn keine. Sein Leben ging seinen gleichmäßigen, einförmigen Lauf. Ruhig und geduldig gab er seinen Schulunterricht, ruhig und geduldig mit der gleichen still-leidenden Miene teilte er Lob und Tadel unter seinen Schülern aus, – mehr konnte man von ihm nicht fordern.

Nein, mehr konnte man wirklich nicht von ihm fordern, und dennoch gab es einen, der ein gewaltiges Mehr von ihm forderte, und das war der Vater Nikiphor. Er haßte den kleinen

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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 168. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/166&oldid=- (Version vom 31.7.2018)