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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

halbem Wege, von dem halberstarrten Flüßchen begleitet, ragten die entblätterten Linden des deutschen Pastorats wie finstere Gespenster in den bewölkten Himmel hinein, und weiter von dem Kamm eines Hügels hoben sich fest und massiv die zackigen Konturen des Schlosses.

Der Wanderer blieb bei jeder neuen Wendung stehen und starrte nach dem Schloßturm, der wie ein Herold breit und wichtig das ganze Gebäude überragte.

„Es war einmal ein reicher Mann,“ murmelte er vor sich hin, „der hatte viele Weinberge und lebte herrlich und in Freuden, und es war ein armer Mann, der hatte nur einen einzigen Wein­berg, den er liebte wie seinen Augapfel. Und der reiche Mann sprach zum Armen: Gehe hinaus von Deinem Weinberge, ich bedarf seiner zu meinen Gärten. Der arme Mann aber wollte nicht, da trieb ihn der Reiche hinaus von seinem Weinberge und nahm ihn zu seinen Gärten.“

Wieder blieb er stehen und schüttelte den Kopf. „Nein, nein,“ sagte er hastig, laut, – „das ist ungerecht! Weiß denn der reiche Mann von dem Weinberge des Armen? Weiß er überhaupt von dem Armen? Das ist ungerecht – Vater Nikiphor hat dich mit seiner Ungerechtigkeit angesteckt, Stepan Nikolaitsch.“

Der kleine Mann raffte sich zusammen und ging wieder mit hastigen Schritten auf und nieder, auf und nieder. Bei der Wegewendung blieb er nicht mehr stehen und enthielt sich des Blicks auf den Schloßturm. „Sieh nicht hin,“ flüsterte er, „vielleicht kommt sie dann eher.“

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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 165. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/163&oldid=- (Version vom 31.7.2018)