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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

Frau Doktor Treller zählte sich zu den wenigen Honoratiorenfamilien des Fleckens. Ihr Mann war ja auch „wirklich studiert“. Ihre Würde trug sie mit soviel Selbstbewußtsein wie ihren einzigen seidenen Unterrock, den sie zu Besuchen immer anzog. Vor Frau Veterinärarzt Schulz hatte sie den großen Vorzug, mit der Frau des Pastors auf besonders gutem Fuß zu stehen, und sie zählte Baron Falkenfels, freilich ohne Gemahlin, zu ihren näheren Bekannten. Er pflegte zweimal im Jahr zum Besuch anzutreten. Das war natürlich ein märchenhaftes Ereignis für sie und ein Ärgernis für die weniger bevorzugte Veterinärsfamilie.

Heute war sie in ihrer Märchenlaune. Der Baron war dagewesen, um den Doktor zur Jagd aufzufordern. An solchen Tagen war Frau Doktor Treller besonders leutselig und herablassend.

„Guten Tag, meine Gute“, sagte sie mit kühler Freundlichkeit, „ich habe mir das Vergnügen gemacht, Ihnen persönlich eine freudige Nachricht zu überbringen. Der Baron war nämlich heute bei uns“, dehnte sie, – „mein Gott, wen haben Sie denn da im Eßzimmer?“

„Den russischen Volksschullehrer, beste Frau Doktor“, flüsterte Frau Schulz ihrem Gast ziemlich vernehmlich zu. „Ich will Sie gleich miteinander bekannt machen.“

„O keine Eile, Frau Schulz“, sagte Frau Doktor Treller und lorgnettierte nachlässig zu Stepan Nikolaitsch hinüber, der mit dem Veterinärarzt am Kaffeetisch geblieben war, – „umsomehr, da ich Ihnen zunächst die gute Nachricht mitteilen

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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 153. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/151&oldid=- (Version vom 31.7.2018)