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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

entgegenlief und sie ungeschickt anrempelte, mußte ich eine Stunde lang nachsitzen. ,Vous aurez la bonté de comprendre, Claire,' sagte sie mir später, ,que je n’ose jamais faire des exceptions pour vous.' Aber leicht mochte es ihr nicht geworden sein, denn sie hatte damals Tränen in den Augen. Es war ja schon ein mächtiger Ausnahmefall, daß sie mich in ihrer Stellung bei sich behalten durfte. Zu meinen schönsten Erinnerungen gehören die Sommerferien, die ich mit Tante Griseldis in dem Hause einer befreundeten russischen Gutsbesitzersfamilie auf dem Lande zubrachte. Da lernte ich wirkliches Familienleben kennen. Da gab es große Gärten, Spielplätze, einen echten Tannenwald, Felder, Wiesen, Haustiere und wilde Knaben.“

„Haustiere und Knaben!“ wiederholte Ernst Philippi lächelnd.

Sie errötete und lachte herzlich. „Sie haben recht, zu spotten,“ sagte sie, „aber denken Sie bloß, Haustiere und Knaben, das waren für mich armen Schößling eines Mädcheninstituts zwei gleich fernstehende Dinge. Außer einem lahmen Pensionskater gab es keine Tierseele in unserm Hause. Und Knaben ebensowenig. Wie oft habe ich mich nach einem Bruder gesehnt! Die kleinen Mädchen im Hause liebten ihre Brüder zärtlich und wurden von ihnen zwar gründlich geneckt, aber auch anderseits ritterlich beschützt.“

„In dieser Beziehung bin ich besser dran gewesen als Sie", sagte Ernst Philippi; „ich habe zwei Schwestern, und sie haben

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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 15. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/15&oldid=- (Version vom 1.8.2018)