Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/149

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

Mit lachenden Augen öffnete ihm Fräulein Wally.

Er reichte ihr die Hand und hielt sie fest.

„Der Erlkönig von Goethe“, sagte er pathetisch.

„Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind.
Er hält den Knaben wohl in dem Arm,
Er hält ihn sicher – er hält ihn warm.“

„Bravo, bravo!“ rief sie entzückt. „Das haben Sie aber prächtig gemacht, Onkel, Tante, Mietze,“ jubelte sie – „kommt alle heran, Stepan Nikolaitsch kann schon den Erlkönig. Nun, gebe ich nicht gute Stunden, wie?“

„Ausgezeichnet!“ rief der Lehrer emphatisch.

„Also bitte noch einmal!“ befahl Fräulein Wally und nahm eine streng pädagogische Miene an. „Sie stehen vor versammeltem Publikum, Stepan Nikolaitsch, – deklamieren Sie!“

Onkel und Tante Schulz nebst Fräulein Mietze waren ins Zimmer gekommen.

Onkel Schulz, der Veterinärarzt, war ein kleiner untersetzter Mann mit aufgedunsenem Gesicht und kurzen Beinen. Beim Atmen schnaufte er heftig wie eine phlegmatische Dampfmaschine. Tante Schulz sah hübsch und wohlkonserviert aus und litt infolge beängstigenden Schnürens an beständiger Übelkeit. Sie liebte es ungemein, ihr Magenleiden zu betonen. Fräulein Mietze, ein auffallend niedliches rosiges Mädchen, glich ihrer Schwester, war jedoch viel hübscher und natürlicher.

Sie setzten sich erwartungsvoll und Stepan Nikolaitsch be­gann

Empfohlene Zitierweise:
Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 151. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/149&oldid=- (Version vom 31.7.2018)