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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

Niemals wird aus so einem Menschen ein kräftiger Baum mit einem eigenen Willen: dahin und dorthin breite ich meine Äste aus.“

„Es muß eben verschiedene Menschen geben,“ sagte Matriona Fadejewna philosophisch.

„Und dann ist er ein Freigeist!“ eiferte grimmig Vater Nikiphor. – „Glaubt an die Atome – ha ha! Unsere orthodoxe Kirche ist wohl nicht gut genug für diesen tiefen Denker. Jawohl. Wird sich noch nächstens von seiner deutschen Liebsten den Lutheranerglauben beibringen lassen. Fängt schon an, das Germanentum zu verteidigen und wagt gar eine eigene Meinung zu haben. Wie ich gestern über diese verfluchten deutschen Barone und deutschen Pastoren rede, sagt er ganz unverfroren: „Sie übertreiben, Vater Nikiphor. Auch unter den Deutschen gibt es vortreffliche Menschen, ich lerne sie jetzt besser kennen!’ Jawohl – er wird sie kennen lernen!“

Jetzt riß der gutmütigen Matriona Fadejewna doch die Geduld. Resolut schob sie ihren Korb mit Stachelbeeren von sich, sah den Geistlichen groß an und sagte: „Mit Verlaub, Vater Nikiphor, ich bin eine einfache, ungeschulte Frau, aber Stepan Nikolaitsch kann ich ganz gut verstehen. Er ist ein ängstlicher Mensch und nimmt alles schwer. Darum ist er ja auch aus seiner Heimat fortgezogen. Aber er ist ein guter stiller Mensch und tut niemandem Unrecht. Und wenn die Deutschen ihm gut gefallen, so lassen Sie ihn doch. Es hat jeder seine Art – Sie wollen, daß er mit ihren Augen sieht, – das kann er nicht, und darum

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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 143. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/141&oldid=- (Version vom 1.8.2018)