Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit | |
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Eine besondere Vergünstigung war es für mich, daß ich die oberen Gymnasialklassen im Rollstuhl durchmachen durfte. Ja, ich habe eine bittere Jugend hinter mir, und ich fühle, ich bin auf dem geradesten Wege, ein Sonderling zu werden.“
Die grauen Augen des Fräuleins leuchteten auf. „Ein Sonderling!“ wiederholte sie leise. „So nennt mich meine Tante, die mich erzogen hat, schon seit Jahren. Eigentlich müßte ich ihr den Titel zurückgeben, denn ein sonderbareres Wesen als meine Tante habe ich nie gesehen. Freilich wurde mir das erst klar, als ich unter andre Menschen kam, und seitdem ich anfing zu vergleichen. Meine Mutter hab’ ich nie gekannt, sie starb gleich nach meiner Geburt; meinen Vater hab’ ich nur zweimal gesehen, auch er ist schon lange tot. Erzogen hat mich meine Tante Griseldis, und die war, solange ich zurückdenken kann, Klassendame im Katharineninstitut in Petersburg. Steif, würdevoll, manieriert, von einer unendlichen befehlenden Höflichkeit des Benehmens war sie. ,Vous aurez la bonté de vous lever à l'instant, Claire' – so pflegte sie mich morgens zu wecken. ,Avez-vous debarassé votre coeur aux pieds du Seigneur?' – das war ihr Gutenachtgruß. Sie war die Ordnungsliebe und Pünktlichkeit in Person. Zärtlichkeiten durfte ich mir ihr gegenüber nur in unserm Stübchen erlauben, vor den Schülerinnen hielt sie mich besonders streng, denn man sollte ihr nicht nachsagen dürfen, daß sie ihre Nichte bevorzugte. Ich war ein lebhaftes Kind, und als ich ihr einst mit ausgebreiteten Armen auf dem Schulkorridor
Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 14. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/14&oldid=- (Version vom 1.8.2018)