Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/138

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

dem Volksschullehrer liebenswürdig begegnete, und sie erreichte es. Die biederen Fleckenbewohner waren viel zu tief von Fräulein Wallys großstädtischer Welt- und Lebenskenntnis durchdrungen, als daß sie sich ihrem Willen widersetzt hätten. Dazu war der kleine bescheidene Mann ihnen persönlich sympathisch und selbst die blonde zurückhaltende Mietze faßte ein freundschaftliches Zutrauen zu dem Russen.

In der eingeschüchterten vereinsamten Seele Stepan Nikolaitschs sprang eine Fessel um die andere. Mit den Fortschritten in der deutschen Sprache, die er emsig betrieb, machte sich auch eine gewisse muntere geistige Regsamkeit geltend. Er konnte unterhaltend, scherzhaft und liebenswürdig sein, und jemehr er Fräulein Wallys fröhlichem Einfluß unterlag, desto mehr entzog er sich halb unbewußt dem dämonischen Zwange, den Vater Nikiphor auf ihn auszuüben gewohnt war.

Alle herrschsüchtigen Menschen suchen sich denjenigen zu nähern, die sich ihnen zu entziehen drohen. Ihre Eitelkeit klammert sich zäh und beharrlich an ihre Opfer, die die Macht ihrer Herrschsucht an sich erprobten oder stillschweigend anerkannten. Auch Vater Nikiphor in seiner rauhen lärmenden Art begann sich auffallend um Stepan Nikolaitsch zu kümmern. Man sah ihn jetzt öfters wegen einer geringfügigen Ursache die Stiege zum Lehrer emporstampfen. Manchmal suchte er ohne eigentlichen Grund Matriona Fadejewna auf und saß schwatzend ein Viertelstündchen bei ihr. War sie beim Erbsen- und Bohnenreinmachen,

Empfohlene Zitierweise:
Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 140. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/138&oldid=- (Version vom 31.7.2018)