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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

feige. Das Bewußtsein seines ganzen Jammers kam heiß über ihn. Starr blickte er zu Boden und sein blasses gequältes Gesicht sah anziehend und interessant aus.

So dachte wenigstens Fräulein Wally. Sie hielt ihm die Hand hin. „Wir wollen gute Freunde werden!“ sprach sie herzlich. „Wann beginnen wir unsere Stunden? Ist Ihnen Mittwoch und Sonnabend von 4 bis 5 nachmittags recht?“

„Hier?“ fragte er noch immer zweifelnd.

„Gewiß hier. Um meine Verwandten sorgen Sie sich nicht. Die tun alles, was ich will. Ich verstehe es, mich verwöhnen zu lassen!“ fügte sie mit koketter Schelmerei hinzu.

Sie waren aufgestanden. Das Glücksgefühl machte ihm schwindlig. Ungeschickt stolperte er über die Treppe und fand sich in einem verträumten seligen Zustande auf dem Heimwege.

Im Flur wartete sein Lieblingsschüler Krisch auf ihn. Der Knabe hing den Kopf und sah scheu mit geröteten Augen drein.

„Mutter ist tot,“ sagte er mit stumpfem Ausdruck.

„Wann ist sie gestorben?“

„Heute morgen um 3 Uhr. Übermorgen soll sie beerdigt werden.“

Der Volksschullehrer faßte den Knaben bei der Hand und ging mit ihm die Treppe empor. Er fühlte sich heute so reich beschenkt, so beglückt, daß die ungeschickte Sprödigkeit seiner Natur sich langsam abzulösen begann, wie eine zu eng gewordene Hülse.

„Du hast wohl die ganze Nacht nicht geschlafen, Krisch?“ fragte er weich.

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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 137. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/135&oldid=- (Version vom 31.7.2018)