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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

des Tieres nieder. Erschreckt sprang das Kätzchen vom Prellstein, tschirp, tschirp machten die Spatzen auf den Dächern und mit melancholischem Lächeln trat Stepan Nikolaitsch vom Fenster zurück.

Er warf sich auf das Bett und starrte zur Decke empor, war das ein Leben, das er hier führte? Vor seiner Seele lag das heimatliche Städtchen Brjansk und die Erinnerung überzog es mit leuchtenden sonnigen Farben. Der polternde, stets betrunkene Vater, die schüchterne verängstete Mutter, die ihren mageren Rücken in gleicher Weise vor den Heiligenbildern und über ihr Nähzeug krümmte, die kleine flachshaarige Schwester Katiuscha, deren Zöpfchen am Sonntag naß und frisch geflochten, steif und artig von dem dünnen Hälschen abstand, die raufenden Gassenjungen mit ihrem Geschrei und ihrem Knöchelspiel – in der Erinnerung war ihm Alles lieb und heimatlich.

Dann die mühseligen Schuljahre, das staunende Entzücken, als er zum erstenmal mit etlichen Kameraden auf der Eisenbahn ins freie Land hinausgefahren war, aus der Enge rauchender Fabrikschlöte hinaus in grüne Walder, auflachende Wiesen, unter armselige gutmütige Bauern, die ihr Leben dahinfristeten in schwerer Feldarbeit bei ungenügendem Einkommen und es nicht besser kannten. Da war der Entschluß in ihm entstanden[WS 1], Volksschullehrer zu werden und die aufklärende Sonne der Bildung hineinzutragen in die kümmerlichen Hütten der Landbewohner. Und was war daraus geworden? Jahrelang hatte er in seiner passiven stillen Weise gegen die dumpfe mißtrauische Unwissenheit

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: enstanden
Empfohlene Zitierweise:
Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 125. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/123&oldid=- (Version vom 1.8.2018)