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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

Sie schritten am Friedhof vorüber. Durch das tropfende Grün der Birken und Syringenbüsche leuchtete hier und da ein blasses Marmorkreuz unter den dunklen triefenden Holzkreuzen freundlich hervor. Bald standen die Landsleute vor der neuerbauten russischen Kirche mit ihren grünen Kuppeln.

„Auf Wiedersehen, Stepan Nikolaitsch“ – sagte der Priester kurz und schritt dröhnend in den Hausflur der Kirchenschule hinein. Die Popenwohnung lag zu ebener Erde wie die Schule, während der Volksschullehrer seine zwei Stübchen eine Treppe hoch hatte, gegenüber den Zimmern des Küsters und Psalmensängers Terenti Kusmitsch Skworzoff.

Erschöpft trat der kleine Mann in seine Wohnung und setzte sich nachdenklich an seinen Tisch. Er stützte den Kopf in die Hand und seufzte schwermütig. Draußen der graue bewölkte Regenhimmel über dem Gewirr von roten feuchtglänzenden Dächern, von denen die Tropfen langsam herabrieselten – nein er wußte – er war ein Fremdling hier und würde sich nie heimisch fühlen unter der kurländischen Bevölkerung. Hier drinnen die leere, unwohnliche Stube, der Boden mit angerauchten Zigarettenenden bestreut, auf Kommode und Stühlen einige halbaufgeschnittene russische Zeitschriften mit schlechten Illustrationen. In der Ecke das eiserne Bettgestell mit der roten verblaßten Flanelldecke, an der Wand die farbigen billigen Abdrucke des szeptertragenden Zaren und der Zarin. Über ein vergessenes Stückchen Zucker auf dem Tisch hatte sich ein Schwarm gieriger

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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 123. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/121&oldid=- (Version vom 1.8.2018)