Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/113

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

Pastor durch seinen Übertritt zur griechischen Kirche einen Streich spielen wollen, denn die geistliche Vermahnung wegen seiner Trunksucht war ein wenig derb ausgefallen. Überhaupt war das Verhältnis zwischen Letten und Deutschen schon seit Jahren ein mißliebiges, und Vater Nikiphor hatte redlich das Seine getan, um die Kluft zu vergrößern. Es war sein Ehrgeiz, Pastor Brenner, „diesem feinen Herrensöhnchen“, wie er sich spottend ausdrückte, möglichst viele Schäfchen abspenstig zu machen. Bei Krisch Kruhming, dem Schmied, war das Spiel leicht gewesen; der willenlose Trunkenbold war nicht der Mann, sich dem zwingenden Einfluß Vater Nikiphors zu entziehen, und so war es denn auch selbstverständlich, daß der kleine Krisch aus der lettischen Volksschule in die russische Kirchenschule trat.

Der schwerfällige Bube mit dem altklugen Gesicht wurde der Liebling des jungen Volkschullehrers. Sein weiches schüchternes Gemüt zog ihn zu dem Kinde des Trinkers, hatte er doch auch als Knabe unter ähnlichen Verhältnissen gelitten. Mit nachsichtiger Geduld nahm er sich des neuen lettischen Schülers an.

Stepan Nikolaitschs Blicke gingen ruhelos zwischen der sterbenden Frau und der wuchtigen Gestalt des Popen hin und her – da trat Vater Nikiphor in den Rahmen der Tür zwischen ihn und das Licht und sprach zum Schmiede: „Gebt uns ein paar Pferdedecken mit – für Stepan Nikolaitsch Goruschkin und mich, sonst bringen wir bei dem Regen keinen trockenen Faden heim“.

Empfohlene Zitierweise:
Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 115. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/113&oldid=- (Version vom 1.8.2018)