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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

vor irgend Jemandem eine solche matte Willenlosigkeit empfunden, noch nie war sein Selbst zu einem so farblosen Ding zusammengeschrumpft, wie vor den mächtigen strahlenden dunklen Augen des Vater Nikiphor.

Eine kleine Hütte stand vor den beiden Wanderern. Es war eine Schmiede. Darin lag die schwerkranke Mutter des Knaben und wartete auf den Tod. Vater Nikiphor richtete seine Schritte dahin und abermals blieb Stepan Nikolaitsch stehen.

„Lassen wir Vater Nikiphor zuerst hineingehen,“ sagte er dumpf, „geh, begrüß ihn, ich komme dann später.“

Krisch lief eilig voraus und traf mit dem Popen vor der Tür zusammen. Mit einer raschen Handbewegung bedeutete Vater Nikophor dem Schullehrer, daß er ihn gesehen habe und ihn sprechen wolle. Unschlüssig blieb Stepan Nikolaitsch vor dem Häuschen stehen und trat hastig von einem Fuß auf den andern. Ihm war die Begegnung fatal und doch wußte er nicht, wie er sich ihr entziehen sollte. Nach der Art schwacher Naturen spürte er plötzlich das Bedürfnis, etwas Eigenmächtiges, ganz Willensstarkes zu tun, hineinzugehen und zu Vater Nikiphor zu sagen: Hören Sie, ich habe keine Zeit auf Sie zu warten, wenn Sie mich sprechen wollen, Sie wissen ja, wo Sie mich zu finden haben. Aber als er sich die zwingenden Augen und das behagliche spöttische Lächeln des Priesters vergegenwärtigte, warf er den Gedanken weit fort und murmelte halblaut vor sich hin: „Stepan Nikolaitsch, du bist ein Hase – was ist dabei zu machen?“

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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 112. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/110&oldid=- (Version vom 31.7.2018)