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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

Kinderstimme. Der elfjährige Knabe drängte sich dicht an seinen Begleiter, als wolle er bei ihm Schutz suchen vor dem drohenden Unwetter.

Der Volksschullehrer legte seine Hand beschwichtigend auf die Schulter des Knaben. In diesem Augenblick flammte der Himmel grell auf, als sei er mit einem gelbleuchtenden Tuche bedeckt und ein Donnerschlag, so jäh, so gewaltig und vernichtend brüllte durch die Luft, daß die Erde erzitterte und das All wie verschlungen war vor der grandiosen Majestät der Naturgewalt.

Schreckensbleich waren die Beiden stehen geblieben und starrten einander hilflos an, der kleine, blasse, hagere Mann mit den unruhigen und unausgearbeiteten weichen Zügen, und der Knabe mit dem eckigen frühreifen Gesicht. Stepan Nikolaitschs knochige bleiche Rechte machte hastig ein Zeichen des Kreuzes und seine Lippen murmelten: „Behüte uns, Jesus Christus und heilige Mutter Gottes“. – – Der Knabe wiederholte mechanisch dieselbe Geberde, aber seine Lippen blieben stumm.

Wortlos gingen sie wieder nebeneinander her. Da hob der Knabe den Arm und deutete auf die Anhöhe. „Vater Nikiphor!“ sagte er schüchtern.

Jenseits des Flusses auf dem Kamm eines ziemlich schroff aufsteigenden Hügels schritt eine gewaltige schwarze Gestalt in wehenden Priestergewändern daher. Den Hut trug Vater Nikiphor in der Hand, das markige, massive Antlitz mit dem lang herabwallenden dunklen Priesterhaar, die breite kraftvolle

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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 110. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/108&oldid=- (Version vom 31.7.2018)